Den Rechtsgedanken verbinden wir heute vor allem mit Ansprüchen. Welche Rechte habe ich? Was steht mir zu? In vielen Angelegenheiten geht es um das Sichern oder Durchsetzen von „Interessen“, um das Herstellen eines Interessensausgleichs oder Vergleichs mit dem Gegenüber bzw. Gegner. (Eine Rechtsanwaltskanzlei kann entsprechend kundtun: „Sie wollen Ihr Recht? Es zu bekommen hängt nicht selten vom Einsatz Ihres Rechtsanwalts ab. Lassen Sie sich durch uns vertreten. Denn Sie sollen Ihr Recht bekommen!“). Diese Ausprägung erleben wir im Umgehen mit dem als Anspruchs- und Schuldrecht gefassten Zivilrecht. Wir sind es gewohnt, das „Recht“ im Blick auf die gesetzlichen Regelungen als formale, unlebendige, für das Zusammenleben und -wirken aber doch notwendige Angelegenheit zu betrachten. Das laufend komplizierter gewordene Rechtssystem kann in Theorie und Praxis nur noch von Experten gehandhabt werden. Und das Zustandekommen der Rechtsnormen (Gesetze) erleben wir weit von uns entfernt.
Wo führt uns diese Ausprägung des Rechtsdenkens und -erlebens hin? Es bringt mit sich, dass wir das Gestalten der sozialen Ordnung und Verhältnisse vom eigenen Rechtserleben trennen. Wir übersehen dann, dass Rechtsgestaltungen konkrete Formen und Strukturen im Raum zwischen uns sind. Sie machen im kleineren wie im größeren Zusammenhang die „handfesten“ sozialen Bedingungen für unsere und unserer Mitmenschen Biographien aus. (Ein Altenpflegeheim mit allen seinen Einschränkungen und Reglementierungen ist heute vor allem eine Rechtskonstruktion, als solche unmittelbarer Ausfluss unserer Sozialgesetzgebung). Wir ziehen abstrakt und funktional gemachte Rechtsnormen in einer Weise heran, dass wir sie kaum als Gestaltung des Rechtsraumes zwischen uns wahrnehmen und uns nicht wirklich für sie verantwortlich fühlen (dafür gibt es ja Juristen). Als „Bürger“ finden wir uns dem „Staat“ gegenübergestellt, den wir in seiner Wirkensweise kaum selbst gestalten. Was ist denn der Staat als Rechtsstaat für uns?
Mir scheint, uns fehlt für das Gestalten der sozialen Ordnung eine wesentliche Möglichkeit, wenn wir nicht vorwärtsgehend neu erleben wollen, wie das Recht Form im Sozialen bildet. So spricht doch viel dafür, dass wir auf ein Erneuern und Verlebendigen des Rechts zwischen uns warten. Welche alt gewordenen Strukturen durch das tradierte Rechtsdenken entstanden und wirksam sind, das erleben wir täglich. Das Potential für ein aktuell lebendiges Recht zwischen uns lebt im Rechtsgefühl, das in jedem Menschen unabhängig von Bildung und Fähigkeiten wohnt. Was Menschen im Verhältnis zueinander gebührt, was als stimmig, tragfähig, ausgewogen und gerecht empfunden wird, dass erschließt sich im unmittelbaren Erleben von gegenwärtigen Verhältnissen. Was „recht“ ist und Recht sein soll, braucht keine wissenschaftliche Beurteilung und Fachlichkeit, aber den Menschen in seinem Rechtsempfinden.